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Kindeswohl und Kindeswille beim Sorgerecht

Schon wieder aus der Reihe: was Eltern ihren Kindern antun ….

Nach ihrer Trennung im Jahr 2013 kämpften die Eltern in verschiedenen Verfahren um Sorge- und Umgangsrecht für ihr 2008 geborenes Kind. Das Kind lebte zuerst bei der Mutter und erklärte 2016 in einer Anhörung, auch gerne dort zu wohnen. 2018 wandte es sich jedoch an eine Jugendhilfemitarbeiterin und ließ den Vater bitten, es von der Schule abzuholen und bei sich aufzunehmen. Seitdem lebt es ohne Kontakt zur Mutter beim Vater. Zwei vom Amtsgericht eingeholte Gutachten warnten vor einer erheblichen Kindeswohlgefährdung durch den Verbleib beim Vater. Dieser „leide unter einer wahnhaften Störung und beziehe sein Kind in das Wahngeflecht ein“, wie einer der Gutachter festhielt.

Das AG sprach der Mutter das Sorgerecht zu, das OLG übertrug es auf den Vater. Auf die Verfassungsbeschwerde der Mutter hob das BVerfG  die Entscheidung des OLG im April 2021 und wies das OLG an, neu zu entscheiden. Das OLG wiederum beauftragte ein neues Gutachten und setzte die Vollziehung der Amtsgerichtlichen Entscheidung (Sorgerecht bei Mutter) aus. Da hatte dann das BVerfG erneut etwas dagegen und entschied per einstweiliger Anordnung, dass das Kind bis zur rechtskräftigen Entscheidung bei der Mutter bleibt.

BVerfG, Beschluss vom 06.09.2021 – 1 BvR 1750/21

Bemerkenswert auch die Leitsätze der ersten Entscheidung des BVerfG (BVerfG Beschl. v. 14.4.2021 – 1 BvR 1839/20):

1. Das den Eltern nach Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG verfassungsrechtlich gegenüber dem Staat gewährleistete Freiheitsrecht auf Pflege und Erziehung ihrer Kinder dient in erster Linie dem Kindeswohl, das zugleich oberste Richtschnur für die Ausübung der Elternverantwortung ist.

2. Das Wohl des Kindes ist auch bei Aufhebung der gemeinsamen Sorge und Übertragung des Sorgerechts auf nur einen Elternteil oberste Richtschnur. Das Kind ist als ein Wesen mit eigener Menschenwürde und dem eigenen Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit unter den besonderen Schutz des Staates gestellt. Jede gerichtliche Lösung eines Konflikts zwischen den Eltern, die sich auch auf die Zukunft des Kindes auswirkt, muss daher das Kind in seiner Individualität als Grundrechtsträger berücksichtigen.

3. Die Grundrechte des Kindes gebieten, bei der gerichtlichen Sorgerechtsregelung den Willen des Kindes zu berücksichtigen, soweit das mit seinem Wohl vereinbar ist; Voraussetzung hierfür ist, dass das Kind in dem gerichtlichen Verfahren die Möglichkeit erhält, seine persönlichen Beziehungen zu den Eltern erkennbar werden zu lassen.

Dieser Beitrag hat 6 Kommentare

  1. Patric

    Ich habe beim OLG das komplette sorgerecht zurückbekommen.Der Beschluss ist eindeutig.
    Der verfahrensbeistand hat verfassungsbeschwerde eingelegt.wie stehen die Chancen für eine Annahme der Beschwerde???

    1. jens haensch

      Meine Glaskugel ist leider derzeit außer Betrieb.

      Im Ernst: wie soll ich die Aussichten einer Verfassungsbeschwerde einschätzen, wenn ich keinerlei Informationen zum Sachverhalt habe? Vorsorglich weise ich darauf hin, dass die Prüfung der Erfolgsaussichten eines Rechtsmittels ein kostenpflichtiger Anwaltsauftrag ist (Ziff. 2100 VV-RVG).

  2. S. A

    Hallo Herr Hänsch

    ist diese Verfassungsbeschwerde von Ihnen eingereicht worden?

    1. jens haensch

      Nein.

  3. Winkler

    Hallo ist der Wille auch zu beachten wenn das Kind den angeordneten Umgang ablehnt und verweigert ? Sehen sie da Unterstützungsmöglichkeit auch wenn Gutachten der Kindesmutter PAS unterstellt. Begleiteter Umgang läuft überhaupt nicht nur durch Zwang.

    1. jens haensch

      Das kommt entscheidend auf das Alter des Kindes an. Eine allgemeine Antwort darauf gibt es nicht.
      Der Widerstand eines älteren Kindes kann den Ausschluss oder die Einschränkung des Umgangs rechtfertigen, soweit andernfalls der Kontakt gegen den Willen des Kindes zwangsweise durchgesetzt werden müsste. Allerdings kann im Einzelfall auch die Vollstreckung das Mittel der Wahl sein. Der Ausschluss des Umgangs ist vorrangig gerechtfertigt, wenn das Kind aus eigenen Motiven und Überzeugungen den Umgang ablehnt und diese Ablehnung objektiv nachvollziehbar ist. In dem Spannungsgefüge zwischen dem Kindeswillen und den Interessen des umgangsberechtigten Elternteils ist abzuwägen, wobei auch ein klar geäußerter Kindeswille keinen absoluten Vorrang besitzt und das Gericht jeweils prüfen muss, inwieweit der geäußerte Wille mit dem Kindeswohl tatsächlich in Einklang steht bzw. die Überwindung des Kindeswillens kindeswohlgefährdend ist. Allerdings hat der Wille eines älteren Kindes – etwa ab 13 oder 14 Jahren – erhebliches Gewicht. Ein gegen den ernsthaften Widerstand des älteren Kindes erzwungener Umgang kann durch die Erfahrung der Missachtung der eigenen Persönlichkeit unter Umständen mehr Schaden verursachen als nutzen, zumal der Wille des Kindes gebrochen werden müsste. Selbst ein auf einer bewussten oder unbewussten Beeinflussung beruhender Wunsch kann beachtlich sein, wenn er Ausdruck echter und damit schützenswerter Bindungen ist. Das Außerachtlassen des beeinflussten Willens ist daher nur dann gerechtfertigt, wenn die manipulierten Äußerungen des Kindes den wirklichen Bindungsverhältnissen nicht entsprechen.

      Zu berücksichtigen ist, dass sich das Kind in einem schweren Loyalitätskonflikt befinden kann. Das sog. Eltern-Feindbildsyndrom oder Parental Alienation Syndrome (PAS) wird durch die Manipulation seitens eines Elternteils erzeugt, so dass sich das Kind mit diesem Elternteil solidarisiert und unter Verdrängung eigener Wünsche den Umgang mit dem anderen Elternteil ablehnt. In schweren PAS-Fällen kann ein Ausschluss des Umgangs gerechtfertigt sein. Bei leichteren Fällen kommt ein begleiteter Umgang in Betracht. Eine extrem starre Haltung des betreuenden Elternteils spricht zugleich gegen eine Erziehungseignung, so dass gegebenenfalls eine Abänderung der Sorgerechtsregelung in Erwägung gezogen werden kann.

      Es kommt daher immer auf den Einzelfall an.

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